Siegfried Schüller
Es geht hier nicht um die jetzige Wahl 2013! Der
folgende Text beschreibt die Qual der Wahl, die ich als
junger Drittwähler am 6. März 1983 gefühlt habe. (Es
war die dritte Bundestagswahl, an der ich teilnehmen durfte.) Bei dieser Wahl zogen erstmals die Grünen in den -
damals noch in Bonn sitzenden - Bundestag ein, und die bis dahin noch ungewählte
schwarz-gelbe
Koalition unter Helmut Kohl wurde vom Wähler bestätigt. Das ist 30 Jahre
her, fühlt sich aber immer noch irgendwie aktuell an.)
Heute ist Wahlsonntag - der bedeutende Tag
der alles entscheidenden Bundestagswahl nach der Wende¹ von
1982.
Am Daumen kitzeln können die mich alle mal. Gewählt habe ich trotzdem: nicht
das kleinere Übel, sondern die Grünen, kompromisslos mit beiden Stimmen.
Es soll Leute geben, die über die Bedeutung der Zweitstimme nicht Bescheid
wissen. Sie gehen trotzdem wählen. Sie können lesen, schreiben und Kreuzchen
machen: beim Gottesdienst in der katholischen Kirche und danach im Wahllokal
gleich nebenan, wo sie alle brav ihre staatsbürgerliche Pflicht erfüllen und
sogar zwei Kreuzchen machen dürfen.
Den ganzen Tag über strömt das Wahlvolk wie die Ameisen über den
asphaltierten Schulhof. Die meisten kommen zu Fuß und pärchenweise oder mit
der gerade erwachsenen Tochter am Arm, die heute zum ersten Mal wählen darf.
Viele fahren auch mit dem Wagen vor, weil sie zu faul zum Laufen sind oder zu
vollgefressen. Sie kommen im Sonntagsstaat mit Mann, Frau, Hund und Kind und
Kegel. Ganz Deutschland ist heute auf den Beinen, um sein Schicksal für die
nächsten vier Jahre zu bestimmen.
Am Abend wartet dann alles gespannt auf den
Wahlausgang, den die Demoskopen längst prophezeit haben. - Die Wahl als eine
einmalige Chance für das Volk, den Vorhersagen möglichst nahe zu kommen.
Auch ich bin gespannt auf das Wahlergebnis - schließlich hab ich ja auch
meine Stimme abgegeben (und abgegeben ist genau das richtige Wort!).
Das Gefühl vor dem Fernsehschirm ist so ähnlich wie bei der Ziehung der
Lottozahlen. Nur mit dem Unterschied, dass ich bei der Wahl nichts
gewinnen kann. Was wird sich denn ändern durch das Wahlergebnis? -
Wahrscheinlich nichts, auf jeden Fall nichts Wesentliches. Es ist ein Ereignis
wie ein Geburtstag - von statistischer Bedeutung, von geschichtlicher
vielleicht, aber von keiner besonderen Bedeutung für mich und mein Leben.
Nach der Wahl stehen die in Bonn doch genauso deppert und hilflos da wie
vorher - mit dem einzigen Unterschied, dass sie dann eine Art Alibi haben,
eine allgemeine Ausrede: "Wir sind nicht schuld, dass alles so gekommen
ist", können sie sagen, wenn die ersten Schwierigkeiten wieder
auftauchen aus dem Sumpf der Wahlpropaganda. "Ihr wart es doch
schließlich, die ihr uns gewählt habt!" oder: "Selber schuld,
hättet ihr eure Stimmen unserer Partei gegeben, wäre euch das erspart
geblieben!" - Klar, die Herren Politiker² werden sich anders ausdrücken,
gewählter im wahrsten Sinn des Wortes, aber die Essenz ihrer Aussagen wird
die gleiche sein. Darauf können Sie Gift nehmen oder Genscher glauben und die Zweitstimme der FDP geben; Kohl ankreuzen,
Franz-Josef Strauß wählen oder den anderen Vogel³.
Es hilft nichts, ich glaube nicht mehr an diesen
Wahlfurz. Er stinkt mir, weil die Ohnmacht, wirklich etwas ändern zu
können, so himmelschreiend offenbar wird.
Die
Wahlvorsteherin, die hinter einer
Schulbank im Wahllokal thront, hat mir den Umschlag mit meiner Stimme abgenommen, macht auf einer Liste einen Haken hinter meinen Namen, dann will
sie den Umschlag in die Urne werfen. Ich erwische ihn gerade noch rechtzeitig,
und es gelingt mir, der verdutzten Frau das Papier zu entreißen.
Mit der feierlichen Erklärung, dass ich das wenigstens selbst machen wolle,
führe ich meine Stimme eigenhändig in den dafür vorgesehenen Schlitz ein
und verlasse als freier und stolzer Bundesbürger mein Wahllokal.
¹ Gemeint ist die Machtübernahme
Helmut Kohls durch das erfolgreiche Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt am
1. Oktober 1982, als die FDP aus der sozialliberalen in eine schwarz-gelbe
Koalition überlief. Diese Konstellation wurde vom Wähler bei der
vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983 bestätigt. Hier können
sie dazu einen alten Artikel
des SPIEGEL lesen.
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² Bis 1983 lag der Frauenanteil
im Deutschen Bundestag unter zehn Prozent. Seitdem ist er stetig gestiegen
und hat 2009 mit 32,8 Prozent seinen bisherigen Höchstwert erreicht. In der Fraktion der Grünen lag er allerdings schon 1983 bei 35,7
Prozent (2009: 52,9 Prozent - nur noch übertroffen von
der Linken-Fraktion mit 55,3
Prozent). Näheres dazu gibt es hier.
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³ Mit dem anderen Vogel ist der damalige
SPD-Kanzlerkandidat Hans-Jochen
Vogel gemeint -
ehemals Münchner OB, Bundesjustizminister und
Regierender Bürgermeister von Berlin.