Eiszeit *
Der Frost kam heimlich über Nacht gekrochen,
schiebt unters Pflaster Buckel, bis es bricht,
das bunte Laub reißt von den Bäumen.
Wer Rheuma hat, spürt’s in den Knochen,
die Kälte kriegt die steifsten Kreuze krumm.
Man macht noch schnell die Fenster dicht
und bringt die letzten Fliegen um –
wer Ruhe hat, kann träumen.
Der Wind pfeift Spatzen
von den Dächern
und alle Baustell’n fegt er leer,
im Nu füllt sich das Arbeitsamt,
jetzt gibt es kein Schlechtwetter mehr,
rapide sinkt der Kontostand. –
An den Küsten treiben Tanker führerlos umher,
schwarz schwappt ihr Öl an Wellenbrechern –
was Flügel hat, verlässt das Land.
Nur Brummen kommt aus
Wasserhähnen,
die Kinder quengeln rum und gähnen.
Schaut, wie der Sturm die Hecke zaust!
Der Winter wird mit harter Faust
die kranken Wälder lichten.
Die Toten werden frieren in der Erde,
was lebt, versammelt sich am Herde
und ich hab Zeit zu dichten.
Ein Wind quält sich durch
die Gedärme
und gibt die Angstbraut wieder frei.
Wer kann, erinnert sich an andre Wärme,
doch wie ein Lot aus Blut und Blei,
zieht es an Haut und Rinde,
wo winterliche Todesfurcht
unter Stein und Wurzeln lurcht,
dass sie dort Zuflucht finde.
* "Eiszeit" erschien 1997 in der
Literaturzeitschrift "Lebensbaum".
Die Wälder stehen noch (oder wieder), sind vielleicht sogar ein
bisschen
bunter geworden.
Das Arbeitsamt nennt sich jetzt Arbeitsagentur (oder
Jobcenter oder Arge).
Das 1996 abgeschaffte Schlechtwettergeld
wurde zum Teil durch das
Winterausfallgeld, später durch
Saison-Kurzarbeitergeld ersetzt.
Sonst hat sich nicht allzu viel geändert.
Manchen wird das Gedicht vielleicht - und zu Recht - an das (einzige)
berühmte Gedicht
"Weltende" des Jakob van Hoddis erinnern, der 1942
von den Nazis im
Vernichtungslager Sobibór ermordet wurde.